Vermutlich ist es wahr, was die Leute sagen: Der Lockdown in Folge der weltweiten Ausbreitung des Covid-19-Virus hat vielen Leuten nicht gut getan. Ich zum Beispiel habe mich aber sauwohl gefühlt ohne die ständige Verpflichtung, das Haus zu verlassen und von Pontius zu Pilatus zu rennen. Naja, zu Hause habe ich mich dann ganz gemütlich hingesetzt und mir einen uralten Jugendtraum erfüllt: einmal einen amtlichen fetten Artikel in der TITANIC zu veröffentlichen. Gesagt, getan. Als der mittelgroße Text erschien, war ich sehr stolz und glücklich. Irgendwie hatte es der bekackte Virus eben nicht geschafft, mich nach hinten zu bringen.
Vorne ist da, wo nicht hinten ist
Nach den bleiernen Jahren des Stillstandes tut sich neuerdings etwas in der Republik. Nachdem einer ganzen Generation eingebläut worden war, dass es hinten wärmer und sicherer sei – z.B. beim Flugzeugabsturz oder im Bundestag – begreifen immer mehr Menschen wie wichtig es ist, vorne zu sein. Ein Blick ins Internet beweist es, Millionen Menschen bekennen sich offen dazu. Sie wollen ihre Gemeinde, ihren Verein, ihr absolut innovatives Produkt nach vorn bringen. Oft auch wieder nach vorn oder gleich nach noch weiter vorne. Kein Zweifel: Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt, insbesondere auch nach vorne.
Wie stets, wenn es um neue Ideen geht, ist die Sozialdemokratie die Speerspitze der Bewegung. Am 21.8.2019 beschrieb das Duo Scholz/Geywitz seine Pläne für den SPD-Vorsitz auf tagesschau.de: Man wolle die »SPD wieder nach vorne bringen…«. Und schon fünf Monate später, am 26.1.2020 verkündet der Stadtmarketingverein Pro Rinteln auf rinteln-aktuell.de kongenial, dass man auch »Rinteln nach vorne bringen« werde. Dorthin, wo die SPD vermutlich schon ungeduldig wartet. »Rinteln, wo bleibst du denn? Komm jetzt endlich, Kartoffelsuppe wird kalt!«
Die große Politik legt sich fest. Und America scheinbar wieder einmal first – tagesspiegel.de berichtet am 9.11.2016 über die erste Rede Trumps nach seiner Wahl, der frischgebackene Präsident werde »Schulen und Infrastruktur wieder nach vorne bringen«. Heißt im Kehrschluss, dass das Bildungswesen, die Straßen und öffentlichen Einrichtungen bis dahin irgendwo hinten waren. Auf der Ladefläche eines Pickups vielleicht oder am Ende der Warteschlange vor der Essensausgabe. Trump holt sie dort ab und führt sie zu sich, denn er ist vorne. Falls dort sein Platz noch frei ist, wenn er zurück kommt… wenn er clever war, breitete er ein nach Schweiß miefendes Handtuch aus.
Womöglich stammt die Idee aber auch aus good old germany. So vermeldete schon am 16.9.2015 bundeskanzlerin.de, dass »Frau Merkel die Gleichberechtigung nach vorne bringen« wolle. Wer zuerst kommt, berechtigt zuerst gleich – so raunten schon unsere Altvorder*innen. Kein Wunder, dass auch Merkels Busenfreundin Annegret Kramp-Karrenbauer ins selbe Horn stößt. Auf www.cdu.de meldet AKK am 20.11.2019, also lediglich vier Jahre später: »Auch unser Leitantrag zum Thema nachhaltige Soziale Marktwirtschaft und die Digitalcharta enthalten viele Ansätze, die unser Land nach vorne bringen.« Na, dann! Dann wird die CDU in Niedersachsen wohl ebenfalls nicht anzufangen zu hadern. Sie betitelte ein ausgewachsenes Leitprogramm oder Antragsteil oder Regierungsdings, egal, mit der Aufforderung: »Unser Land nach vorne bringen. (Regierungsprogramm – Leitantrag)« (30. August 2017, www.david-mcallister.de). Ausgeschlossen, dem Dings keine gute Reise zu wünschen.
Keine Fortschrittsfeier ohne Meier. So berichtet gn-online.de aus Nordhorn (abgerufen am 10.2.2020), eben jener Herr Meier wolle »als Querdenker Nordhorn ›nach vorn bringen‹«. Bloß wie soll das gehen? Nun, Tausendsassa Meier kennt das geheime Rezept: er verspricht »mehr Bürgernähe«. Die Gemeinde ganz vorne, der Bürger ganz nahe – klingt gut. Blöd nur, dass Amtsinhaber Thomas Berling im Mai wiedergewählt wurde und nun Meier auf dem Weg nach vorne voll in demselben steht.
Auch im fränkischen Forchheim schmiedet man kühne Vorne-Pläne. »Kleinste Teile sollen Forchheim nach vorne bringen«, verkündete bereits am 13.01.2017 nordbayern.de. Bleibt den Forchheimern viel Erfolg im Souterrain der Nanotechnologie zu wünschen und dass sie dort inzwischen auch Gustav Fischer begegnet seien, der am 19.1.2020 beim Neujahrsempfang in Rheinfelden betonte: »Es gilt aber den Kurs zu halten, der es ermöglicht, unser Gemeinwesen insgesamt nach vorne zu bringen«. Eine nachgerade brillante Idee: Wir spielen nicht mehr ein Feld der Politik gegen das andere aus, sondern bringen alles insgesamt nach vorne. Die Politik des 21. Jahrhunderts hat offensichtlich verstanden: Vorne ist da, wo es hingeht, wenn man den Kurs hält. Und nicht seitlich schlingert oder – Gott bewahre! – Rückschritte macht.
Frauen mischen kräftig mit, wenn es nach vorne geht. So wurde am 9.1.2020 vorgeschaut auf die zwölfte Frauenbildungswoche, welche – wer hätte es gedacht? – »Wichtige Themen nach vorne bringen« (aachener-zeitung.de) soll. Die schlichte Wahrheit lautet: etwas ist schlecht, wenn es hinten ist. So wie beim 200-Meter-Hürdenlauf die Beine. Und wenn man will, dass etwas besser wird, muss man es nach vorne bringen. Die Beine zum Beispiel beim Hürdenlauf. Hauptsache – man kann es gar nicht oft genug betonen – nicht hinten.
So stellt uns am 13.3.2019 RP-online Helmut Biermann vor. Der heißt so, ist Präsident der Deutschen (Taschen-)Billard-Union und der »Mann, der Billard nach vorne bringen will«. Doch die Konkurrenz schlägt, pardon: schläft nicht. Gregor Timmer, Leiter des Kölner Sportamtes, will am 10. April 2019 prompt »Boxen in Köln nach vorne bringen« (koelnsport.de). Das möchte ein spannendes Aufeinandertreffen werden, da vorne, wenn spitze Fäuste auf harte Queues prallen. Wohl dem, der sich rechtzeitig Karten gekauft hat, in der ersten Reihe natürlich!
Allenlanden macht es sich auf den Weg. Am 2.12.2019 kündigte auch Fee Beyer im Interview auf wiss-netz.de an, »den deutschen Spitzensport durch neue Technologien nach vorne bringen« zu wollen. Eine gute Idee, denn irgendwie ist ja »Spitze« auch eine Art von »vorne« und die Ablösung der humanoiden Sportler durch high-tech Kampfroboter längst überfällig.
Vermutlich überraschend für viele dürfte allerdings sein, dass die große Ehre, als erster die richtige Richtung erkannt zu haben, einem Russen gebührt. »Die Jahrtausendwende sei der richtige Zeitpunkt für eine neue Politiker-Generation, um Russland nach vorne zu bringen, meinte Jelzin damals mit der schweren Zunge eines Alkoholisierten«, so vermeldet t-online.de mit der schweren Zunge eines lustlosen Nachrichtenportals am 1.1.2020 zum zwanzigjährigen Jubiläum der Errichtung Vladimir Putins. Ganz klar: egal, ob sich jemand vorne, hinten oder in der Mitte verortet – im Gulag ist das einerlei, weshalb in Russland bis heute der Richtungsstreit ausblieb. Apropos Gulag: airmotion-media.de verspricht Unterstützung. Hier finden Verzweifelte »8 Ideen, die Ihre Firma nach vorne bringen«. Was manchmal nötig sein kann, denn freilich gilt unverändert die alte Bauernregel: »lässt der Social Media Marketer nach, so leidet das Unternehmen in den sozialen Netzen« (20.8.2018). Noch Fragen? Nein? Dann weiter im Text.
Putin ging seinerzeit in die Russenhocke und begann, unbeirrtbar dem korrekten Kurs zu folgen, aber im verweichlichten Westen ist bei nicht wenigen der Drang nach vorne von Zweifeln beschwert. Wo dieses Vorne denn eigentlich sei, fragen sich viele insgeheim. Darüber hinaus wächst auch die Angst vor dem Vorne selbst. Was mag dort sein? Jenes grauenvolle Licht, das einen anlockt und ratzeputz beim Kniffel den fünften Würfel verschusselt? Oder schlichtweg all die anderen Streber, die schon viel früher nach vorne aufbrachen? Am Ende auch der Klaus Huwendieck mit der dicken Brille aus der 8b? Eine Vorstellung, die noch einen Tick grauenvoller ist als die, ohne Abendessen in ein schwarzes Loch gesaugt zu werden.
Zwar meinte Wilfried Stief schon am 6.9.2018, man müsse »sich engagieren, das Thema Natur wieder nach vorne bringen« (tageblatt.de), doch seien wir einmal ehrlich: wie kann das gehen? Für die Natur ist nun wirklich kein Platz mehr in der ersten Reihe der Erfolgreichen. Wenn dir diese abgeloste Schrapnelle dort nicht im Wege stünde, so träte sie dir doch nur auf die Füße. Also: Keine zentralgeile Idee.
Wie geht es weiter? Klare Sache: mit Nietzsche, wie immer. Wenn wirklich alle nach vorne wollen, ist’s ein Kinderspiel, den Trend von Morgen vorherzusagen: Das neue Vorne ist Hinten. Und dort sollten wir alle mit vereinten Kräften unser Land hinbringen, nach ganz hinten. Rechtzeitig, ehe all die anderen Deppen da sind.
TITANIC Heft 491 / 41. Jahrgang, September 2020
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