Vergangenheitssehnsucht

Der von mir ursprünglich vorgesehene Titel lautete „AWF – Alles Wie Früher“, aber bei Überschriften gibt es meistens mehr als eine perfekte Wahl. Oder ist das dann gar nicht mehr perfekt? Früher habe ich mir solche Fragen jedenfalls nicht gestellt…

Papa rauchte Pfeife

Zwar hat die Bewegung der sogenannten Querdenker mittlerweile mangels Überlebender an Schwung verloren, die AfD kommt mit ihrer Forderung »Deutschland aber normal« mangels Sinn auch nicht wirklich voran, jedoch ist neuerdings eine neue Gruppe ins Visier der Sicherheitskräfte geraten: Die Ultra-Retronauten. Anhänger dieser Bewegung lehnen alles ab, was eine moderne Gesellschaft auszeichnet, einschließlich der modernen Gesellschaft selbst. Vielmehr fordern sie von Staat und Politik die Rückkehr zu Zuständen an einem ganz bestimmten Zeitpunkt in der Vergangenheit, als »die Welt noch in Ordnung war«.

Wir griffen kurzerhand zum Telefonhörer (Festnetz) und verabredeten uns mit einem der bekannteren Köpfe der URler, dem Vorsitzenden der AWF-Partei (»Alles Wie Früher«) in seinem Lieblings-Omacafé. Edwin Birkenborkner will, dass alles so bleibt wie am Vorabend seiner Einschulung am 1. September 1968.

»Herr Birkenborkner, was war so besonders am Tag vor Ihrer Einschulung?«

EB: »Dieser Tag war einfach perfekt. Die Welt war noch in Ordnung.«

»Was heißt ‚in Ordnung‘? Können Sie uns das bitte etwas näher erklären?«

EB: »Was ist daran so schwer zu verstehen? Es war eben alles in Ordnung. Ich freute mich auf die bevorstehende Einschulung, Papa rauchte Pfeife, während er im Ohrensessel saß und den Schlesischen Boten las. Die Mondlandung stand bevor, es gab keine Ausländer, einmal im Jahr fuhren wir mit dem VW-Käfer nach Italien und ich trug den ganzen Sommer lang kurze Lederhosen.«

»Dieselben, die Sie jetzt anhaben?«

EB: »Ja genau. Übrigens können Sie sich Ihre abschätzigen Blicke sparen, Sie sind auch dicker geworden seit der Grundschule!«

»Das könnte stimmen. Warum aber kein späteres Datum? Was hat sich am Tag Ihrer Einschulung geändert?«

EB: »Alles. Es gab plötzlich keinen Mann im Mond mehr und irgendjemand sagte mir, dass Adenauer seit Jahren nicht mehr Kanzler war. Überhaupt, das Volk wurde von den Kommunisten unter Willy Brandt entmündigt, und neben mir saß Antje Tantenschläger in der Schulbank. Eine grauenhafte Person! Sie trug Hosen und redete, selbst wenn sie nicht gefragt wurde. Niemand achtete mehr auf mich.«

»Gut, vielleicht war das tatsächlich ein schlechter Tag für Sie. Aber ist das wirklich ein Grund, dass die gesamte Gesellschaft in diesem Land alle Uhren auf den Vorabend Ihrer Einschulung zurückdrehen sollte?«

EB: »Ja. Denn in der Tat wurde von diesem Tag an alles schlechter. Meine Zweifel daran, dass Mädchen zur Schule gehen sollten, wurden absolut bestätigt. Sie sollten besser wie Mama am Herd stehen. Meine Ex-Frau Gisela hing auch dieser irren Idee der Emanzipation an. Völlig inakzeptabel, wie ich schon damals erkannte.«

»Dieser Tag liegt nun mehr als fünfzig Jahre zurück. Die Welt hat sich seitdem in fast jeder Hinsicht verändert. Ist denn alles schlecht, was danach geschah?«

EB: »Ja. Betrachten Sie zum Beispiel die sogenannte Pandemie. Damals gab es keinen Corona-Virus. Es gab keine Masken und keine Impfung. Alles war in Ordnung.«

»Die einen sagen so, die anderen weisen allerdings daraufhin, dass damals noch Polio und Pocken wüteten und zehntausende bei Verkehrsunfällen starben, weil sie nicht angeschnallt waren.«

EB: »Selber schuld. So war das eben, wer nicht auf sich aufpasste, musste mit den Folgen leben. Dies ist ein freies Land, oder? Und wer ein schlechtes Immunsystem besitzt, wer die falsche Grundeinstellung hat, muss dafür auch die Verantwortung tragen. Stand übrigens auch damals schon in jedem Horoskop.«

»Können Sie in den gewaltigen Fortschritten, die unsere Gesellschaft seit damals gemacht hat, nicht auch einige gute Aspekte erkennen?«

EB: »Nein. Sehen Sie, damals funktionierten sogar die Atomkraftwerke einwandfrei. Und die Autos konnte man jederzeit selbst reparieren, zum Beispiel mit Mutters Nylonstrumpfhose, wenn der Keilriemen gerissen war. Wir mussten nicht die Landschaft mit Windrädern verspargeln, die Fußballspieler hatten deutsche Namen und wir keine EC-Karten. Wir zahlten bar mit D-Mark und alles war in Ordnung.«

»Sie sind führendes Mitglied der Bürgerbewegung AWF – Alles Wie Früher. Etwa zwei- bis dreihundert Anhänger ihrer Bewegung versammeln sich seit ein paar Jahren regelmäßig und fordern, dass die Zeit zurückgedreht wird. Beobachter berichten jedoch, jedes Mitglied möchte die Zeit an einem anderen Tag anhalten, aber man würde sich gegenseitig nicht zuhören.«

EB: »Wie bitte? Was haben Sie gesagt?«

»Eine letzte Frage: Würden Sie auch mit anderen als politischen Mitteln versuchen, ihr Ziel zu erreichen?«

EB: »Selbstverständlich. Körperliche Gewalt hat keinem von uns geschadet, oder? Ich persönlich wäre sogar bereit in eine Zeitmaschine zu steigen. Aber nur, wenn ich das Zieldatum wählen darf.«

»Herr Birkenborkner, wir danken Ihnen für…«

EB: »Papperlapp! Niemand bedankte sich früher für ein Gespräch! Und jetzt lassen Sie mich in Ruhe, ich muss noch ein Bündel Steinkohlebriketts für den Küchenherd kaufen, ehe die neue Inszenierung von Hänsel und Gretel auf Mittelwelle 801 Kilohertz übertragen wird.«

„Die Wahrheit“ in „die tageszeitung“, Ausgabe 24. November 2021


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