Verschiedene Verwandte
Mein Opa und mein Onkel waren extrem unterschiedliche Typen, obwohl sie ja recht eng verwandt waren. Was bei Vater und Sohn aber auch keine Überraschung ist.
Der Alte war ein Chaot, ein wilder Prahlhans, der noch mit weit in den Achtzig behauptete, ein Verhältnis mit einer sechzig Jahre jüngeren Pflegerin zu unterhalten. »Jede könnte ich haben«, schrie er mit voller Lautstärke, wenn wir Enkel ihn besuchten. Als wären wir diejenigen, die schlecht hörten. Wobei: Irgendjemand muss ihm dann auch geholfen haben, aus dem Heim für psychisch auffällige Senioren zu entwischen. Mit 10.000,- Mark in der Tasche und einem Ticket nach Mallorca. Von wo meine Eltern drei Wochen später eine Postkarte erhielten. Darauf war ein Fahndungsplakat zu sehen, sepiabraun in Wild-West-Manier. »Wanted«, stand darauf und: »Dead or alive. 1000 $«. Darunter das Gesicht meines Opas, der durch das Loch in einer Pappwand in die Kamera grinst. Mit einer dicken Zigarre zwischen den Lippen und keinem einzigen Zahn in der Gosche.
Der Onkel war komplett das Gegenteil. Still, gewissenhaft, ordentlich. Und mit einem vollständigen Satz Zähnen ausgestattet. Ein hervorragender Ingenieur. Auch sein Humor war hochspezialisiert: Er liebte Witze über katholische Pfarrer. Hunderte davon hatte jederzeit parat. Als Kind verstand ich nie eine dieser Geschichten, in denen stets eine Haushälterin, ein Pfarrer und ein Beichtstuhl vorkamen. Heute weiß ich, dass es immer ein und dieselbe Pointe war.
Eine einzige Gemeinsamkeit hatten Vater und Sohn. Sie verachteten Autos.
Mein Opa hatte seine Abneigung aus dem zweiten Weltkrieg nach Hause gebracht. Eine Art psychische Kriegsverletzung. Bei der Wehrmacht müssen sie damals relativ schnell gemerkt haben, dass er sich nur an Regeln hielt, die er selbst aufgestellt hatte. Da er überzeugter Sportverweigerer war, wollte man ihn zum LKW-Fahrer ausbilden. Doch seinem fränkisch-gemütlichen Naturell war jegliche Kriegsführung zuwider, so dass er pausenlos den Rückwärtsgang einsetzte, um sich von der Front zu entfernen. Da haben sie ihm ziemlich direkt ins Gesicht gesagt, dass er ein saumäßig schlechter Fahrer sei. Die Überlieferung behauptet, dass er in Folge dessen tödlich beleidigt war und ein paar sehr unanständige Ausdrücke im Zusammenhang mit seinen Vorgesetzten, dem dritten Reich und den Nazi-Führern benutzte. Man wollte ihm deswegen an den Kragen, doch angeblich entführte er kurzerhand einen Güterzug und floh von Rumänien aus bis kurz vor Bremen, wo er sich britischen Truppen ergab. Als er aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehrte, weigerte er sich bis an sein Lebensende irgendein Fahrzeug zu steuern. Taxifahrer in der ganzen Welt verehrten ihn für seine Konsequenz.
Sein Sohn wiederum hatte als Schüler einen Unfall, als er auf dem Moped eine Bahnstrecke überqueren wollte. Der Teil der Verwandtschaft, der Ingenieure langweilig, humorlos und spießig fand, behauptete, mein Onkel sei ungeschickt mit dem Rad in einer Schiene hängen geblieben. Der andere Teil der Verwandtschaft (also alle außer meinem Opa) allerdings mutmaßte, dass das Moped bei der Überquerung der Schienen auseinander gefallen sei, weil mein Opa zuvor versucht hatte, es zu reparieren.
Was durchaus möglich ist, denn mein Opa machte sich oft mit großem Lärm und viel Aufsehens an handwerkliche Aufgaben. Wie die Reparatur eines Mopeds oder das Aufstellen eines Bücherschranks. Aber er verlor jedes Mal mittendrin die Lust und ließ Alles für immer stehen und liegen. Schließlich kann man Bücher auch auf dem Boden stapeln.
Mein Onkel hingegen war ein regelrechter MacGuiver: Er konnte Alles mit Allem reparieren und das Zeug funktionierte hinterher besser als zuvor. Wenn er mit dem Flugzeug verreist war, zum Beispiel, dann nahm er das Plastikbesteck mit und die kleinen Papiertütchen mit Gewürzen, die man von der Stewardess bekommt. Damit bastelte er die unglaublichsten Dinge! Aus der Plastikgabel machte er einen neuen Bügel für die Brille der Tante. Mit dem Plastikmesser flickte er einen undichten Gartenschlauch, indem er es einfach in das Loch steckte und die Spitze abbrach. Mit dem Salztütchen taute er das zugefrorene Schloss am Holzschuppen auf. Mit dem Pfeffer zauberte er ein Feuerwerk über den Kerzen des Adventskranz‘.
Aber eigenhändig ein Fahrzeug gelenkt hat mein Onkel seit dem Unfall nie wieder. Obwohl er sich beim Sturz nichts weiter als eine Platzwunde am Kinn und eine schwere Gehirnerschütterung zugezogen hatte. Er freundete sich zum Ausgleich ganz gewaltig mit Schienenfahrzeugen an, die man bekanntlich nicht lenken muss.
Am Höhepunkt seiner Schaffenskraft baute er sogar eine eigene Dampflokomotive. Die beheizte er höchstpersönlich und fuhr auf den selben fünfhundert Metern Gleis, die er von der Bundesbahn gekauft hatte, tagelang hin und her. Was den Opa dann wieder in seiner Meinung bestärkte, dass dieser Sohn ein Idiot sei, der nicht von ihm abstammen könne. Sondern von einem Lokführer, wobei offenblieb, wie der es geschafft haben sollte, der Oma im Vorbeifahren ein Kind zu machen.
Irgendwann ist dann der Opa gestorben und sie haben ihn am Nürnberger Westfriedhof aufgebahrt. In der Nacht vor der Bestattungszeremonie läuteten die Glocken der Friedhofskapelle. Das berichtete zwei Tage später die Zeitung. Ein technischer Defekt, hieß es da, dessentwegen stundenlang das motorisierte Läutwerk gelaufen war.
Mein Onkel aber kannte die wahre Ursache: Mein Opa war es gewesen – genauer: sein Geist, der sich nachts, als alle Lebenden fort waren, in der Kapelle umschaute, abenteuerlustig wie immer. Und dann den Schaltkasten für die Glocken entdeckte…
»So ist das schon immer gewesen«, sagte mein Onkel. »Er muss unbedingt an allen Hebeln herumdrücken, hat keine Ahnung, was er tut, und kriegt’s am Schluss nicht mehr aus.«
Fürther Nachrichten, Ausgabe vom 3. Juni 2020
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