Übernehmerkongress

Die t.a.z. aus Berlin betreibt seit vielen Jahren eine Rubrik namens „Die Wahrheit“. Hier schreibt die crème de la crème der deutschen Satiriker*innen. Wie der Titel sagt, darf man nicht alles wörtlich nehmen, was da drin steht. Genau mein Fall also. Seit einigen Jahren bin ich von Zeit zu Zeit dabei, worauf ich übrigens jedesmal sehr stolz bin!

Aus der Rubrik „Die Wahrheit“ in der t.a.z. vom 30.12.2022.

Vorsätze für das neue Jahr – wer selbst noch nie einen gefasst hat, werfe als erster das Handtuch! Wieder einmal hat sich beim zurückliegenden Jahreswechsel eine große Mehrheit der Menschen für die vor uns liegenden zwölf Monate Großes vorgenommen. Abnehmen, Karriere machen, mit dem Rauchen anfangen oder mehr Alkohol trinken gehören zu den gängigsten Vorhaben. Gleichwohl ist bekannt, dass sich die meisten Menschen zu viel vornehmen. Wenn erst einmal der Alltag wieder einkehrt, müssen wir nur allzu oft feststellen, dass wir uns übernommen haben.

Wir befinden uns damit in guter Gesellschaft, denn in den letzten Jahren haben sich zahlreiche Interessengruppen für Übernehmer gegründet, die deutschlandweit vernetzt sind. Kurz vor Weihnachten veranstaltete der Übernehmer-Bundesverband in letzter Minute seine jährliche Hauptversammlung in Bad Wörishofen. Ursprünglich hatte man den Termin schon im Mai angesetzt gehabt, aber auf Grund von massiven Verzögerungen wurde die Veranstaltung in die ohnehin ereignisarme Vorweihnachtszeit verschoben.

Laut Plan hätte das zweitägige Programm am Abend des vierten Adventssonntags abgeschlossen werden, jedoch hatten sich die Veranstalter übernommen, so dass dann alles etwas länger dauerte. Daher konnte die Stadthalle – den vollmundig gegenüber der Kommune abgegebenen Versprechen zum Trotz – nicht am Montagmorgen grundgereinigt, energetisch saniert und frisch begrünt rückübergeben werden. Die sich daran entzündenden Streitigkeiten, welche mit der gewaltsamen Räumung des gesamten Stadtgebiets endeten, weckten bundesweite Aufmerksamkeit.

Ein Gespräch von Vertretern der Stadtverwaltung mit dem Vorsitzenden des Übernehmerverbandes kam leider nicht zustande, da letzterer seinen Terminkalender mehrfach überbucht hatte und kurz davor stand, Zeitinsolvenz anmelden zu müssen.

Es war geplant gewesen, innerhalb von zwei Tagen etwa neuntausendzweihundert Vorträge in neunundachtzig parallelen Sitzungen zu veranstalten. In diesem Jahr standen als übergeordnete Themen die Steuerreform, der Ausbau der Eisenbahn-Güterstrecken, veganes Grillen, die nächste Mondlandung, die Stromgewinnung mit Kernfusion und die Entrümpelung einer Garage auf dem Programm. Sicherlich sei die Beschäftigung mit solch komplexen Inhalten, so stand es in der Ankündigung, ein ambitioniertes Vorhaben gewesen, aber am Ende hätte man sich nicht entscheiden können, was man weglassen sollte, und einfach gesagt: egal, wir machen das alles.

Die Gefahr, sich dabei zu übernehmen, habe man nicht gesehen, vermeldete zwei Wochen nach Ende der Straßenschlacht von Bad Wörishofen der völlig überlastete Pressesprecher der Übernehmer. Ausnahmslos alle Mitglieder des Verbandes, die vorab konsultiert worden waren, hätten sich zuversichtlich gezeigt. Überhaupt kein Problem sei das, man müsse eben nur aufs Zeitmanagement achten, aber es sei doch wie bei einem Personenaufzug: Wo zehn reinpassen, hätte auch immer noch ein elfter Platz. Leider müssten sie, die Befragten, nun ganz schnell weiter, sie seien schon zu spät für die nächsten beiden Termine, die parallel stattfanden, und erwarteten zugleich einen wichtigen Anruf sowie den persönlichen Zeitmanagement-Coach.

Die meisten Teilnehmer der Tagung übernahmen organisatorische Aufgaben im Dutzend, verhandelten mit den Behörden über eine Verlängerung des Aufenthalts und sahen zugleich zu, dass sämtliche in den nächsten Tagen anstehenden Termine umgeplant wurden. In kürzester Zeit hatte sich praktisch jeder übernommen. Die Besetzung der Stadthalle erstickte an Überlastung, viele Teilnehmer brachen unter ihrer Übernommenheit zusammen und gerieten in eine Art Lähmungszustand, aus dem sie nicht einmal mehr die Stromschläge ihrer KI-gesteuerten Termincomputer wecken konnte. Sie wurden von den bald überforderten Rettungskräften hinausgetragen und vom Fleck weg in eine der zahlreichen Burn-Out-Kliniken geschafft, die rasch überbelegt waren.

Nun stellt sich rückblickend die Frage, ob die Politik inzwischen reagiert und dafür gesorgt hat, dass Derartiges zukünftig nicht mehr geschehen kann. Insbesondere wurden kurz nach den Vorfällen von der FDP staatliche Übernehmer-Hilfen gefordert, doch die zuständigen Stellen waren derartig überbeansprucht, dass nicht einmal geklärt werden konnte, ob solche Hilfen überhaupt existierten.

Traditionell ist die Übernehmer-Vertretung im Therapieministerium angesiedelt. Mehrere Zeitungen, die eine Stellungsnahme des zuständigen Staatssekretär angefragt hatten, wurden jedoch abschlägig beschieden. Man bedauere es sehr, hieß es, aber der Herr Staatssekretär sei vollkommen überarbeitet und müsse, selbst ohne noch neue Aufgaben zu übernehmen, bis lange nach Pensionierung, Ableben und Seligsprechung Dinge abarbeiten, die er angezettelt habe.

Auch unsere Anfrage stieß auf eine ähnliche Reaktion. Man solle doch einfach mit einer anderen Reportage weitermachen, irgendetwas sei doch sicher liegen geblieben? Oder gleich eine neue anfangen, das Leben sei so oder so ein Fragment, wozu sich also über unfertige Dinge den Kopf zerbrechen. Das Wichtigste sei, so die Assistenz am Telefon mit einem Zwinkern in der Stimme, dass sich niemand langweile, oder? Sie müsse nun jedoch leider das Gespräch beenden, auf den zahlreichen anderen Leitungen warteten bereits die nächsten Menschen, die sich übernommen hatten.


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