Der kleine Blind-Fuchs
Ich bin einer von denen, die erst sehr spät zu wachsen begannen. Zuvor war ich wahrscheinlich mit anderen Dingen beschäftigt. Deshalb war ich immer der Kleinste im Sportunterricht, mit knapp einem Meter ja kein Wunder. Mit neunzehn war dann Schluss mit Schule und somit dem Schulsport. Und mit zwanzig begann ich endlich zu wachsen, aber für mein Verhältnis zum Sport war es dann schon zu spät.
Außerdem bin ich kurzsichtig. Und zwar von Geburt an. Meine Mutter behauptete, das hätte ich vom Opa und ich könnte doch prima seine Brillen auftragen. Und sie meinte, dass es auch seine gute Seite habe, da ich dann beim Militär nicht an die vorderste Front käme. Zu Zeiten des kalten Krieges immerhin ein sehr tröstlicher Gedanke!
Wenn ich allerdings den Opa fragte, dann war der sehr wohl mit seiner Nickelbrille bis kurz vor Moskau gekommen und wieder zurück. Weil er zwar nicht mit den Augen, sondern halt mit seinem Mund den Gauleiter in Wolframs-Eschenbach beleidigt hatte und deswegen in den russischen Winter geschickt wurde.
Es war eben einfach üblich, vor dem Sport die Brille abzulegen. Ich war der einzige Junge in der Klasse, der eine Brille trug. Niemand interessierte sich dafür, welche Konsequenzen das hatte. Die einzige Angst der Lehrer war, dass ich meine Brille zerbrechen könnte und sich der Hausmeister an den Scherben verletzen würde, wenn er den Hallenboden wachste. Und Kontaktlinsen galten als Science Fiction, als irre Idee von psychopathischen Zukunftsforschern.
Deswegen stand ich also da, ganz am Ende der Reihe Jungs, die sich der Größe nach aufstellen mussten, und sah nichts. Der kleine Blind-Fuchs. Nicht nur beim Bocksprung, wo es nicht schlecht ist, wenn man genau zielt, zeigte sich dann, dass meine Voraussetzungen nicht die günstigsten für sportlichen Erfolg waren. Vor allem bei den Mannschafts-Sportarten erwies es sich als gravierender Nachteil, wenn einer der Mitspieler weder zwischen Freund und Feind unterscheiden konnte, noch erkennen konnte, in welches Tor (oder Korb oder Netz oder sonstwas) der Ball hinein sollte.
Es hatte dennoch drei Sportarten gegeben, die mir halbwegs zusagten, aber irgendwie kam ich lange nicht dahinter, weshalb. Diese drei waren Tauchen, Langlauf und Reckturnen. Dabei muss man einfach nicht scharf sehen und es ist vorteilhaft, wenn man dünn und schmal ist, während es nur auf Willensstärke und Körpergefühl ankommt. Wenn ich das mit sechzehn schon begriffen hätte! Ich wäre wohl Spitzensportler geworden! Sagen wir Europameister im Langstreckentauchen, und ich würde heute mein Geld als ehemaliger Champion mit einem eigenen Autohaus sowie alle vier Jahre im Fernsehen als Co-Moderator bei einer Olympiade verdienen. Bei uns zu Hause würden im Flur ganze Serien von Pokalen auf einem Sideboard stehen und meine Frau würde regelmäßig über die verdammten Staubfänger fluchen. Vielleicht hinge im Arbeitszimmer sogar ein gerahmter Star-Schnitt aus einer »Bravo« der 1990er Jahre – ein Exklusiv-Interview mit dem berühmten Tauch-Fuchs in Siegerpose.
Doch so wandte ich mich, frustriert von jahrelangen Misserfolgen, von körperlichen Wettkämpfen ab und ausschließlich geistigen Tätigkeiten zu. Bis ich dann, Anfang meiner Dreißiger aus purer Neugier der Einladung eines Arbeitskollegen folgend mit ihm »joggen ging«. Eine im Übrigen typische sprachliche Verrenkung, wenn der hochzivilisierte Mensch ausdrücken möchte, dass er sich in Bewegung versetzt, um sich an einem bestimmten Ort um der Bewegung willen zu bewegen. Eine ähnlich verquere Wendung ist beispielsweise »zum Klettern fahren«.
Wir trafen uns am Wiesengrund beim Lederersteg und rannten los. Nach fünf Minuten verstummte das Gespräch, mein Kollege keuchte. Weitere fünf Minuten später hatte ich meinen ersten Endorphin-Flash und flog leicht wie eine Feder über die Wiese, während himmlische Chöre in meinen Ohren jubilierten. Ich rannte bis Fürth, umrundete die große Wiese, und es war so als bewegten sich meine Beine außerhalb von Zeit und Raum, mein erleuchteter Geist zählte die silbernen Blätter an den Pappeln, ich roch tausendundeine Blüte und plauderte locker mit den Vögeln, die Mühe hatten, mir zu folgen. Als ich an den Turngeräten nahe bei der Theodor-Heuss-Bücke vorbeikam, drehte ich noch schnell ein paar einarmige Riesenfelgen, die ich entspannt lächelnd mit einem doppelten Salto abschloss. An diesem Tag entdeckte ich ganz für mich persönlich den Sport.
Nach knapp einer Stunde war ich zurück am Westbad, wo ich Schwierigkeiten hatte den Kollegen, der nach der halben Strecke vollkommen erschöpft zusammengebrochen war und sich auf einer Bank ausruhte, wieder zu erkennen. Schließlich hatte ich ja aus alter Gewohnheit meine Brille zu Hause gelassen.
erschienen in den Fürther Nachrichten am 24. April 2019
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