Es gibt Leute, die behaupten rigoros, ein Ereignis habe nur dann stattgefunden, wenn jemand darüber erzählen würde. So gesehen, bin ich mit diesem Beitrag dieser Aufgabe trefflich nachgekommen. Alles wahr, nichts daran ist erfunden, nur weggelassen habe ich ein paar unwichtige Details, an die ich mich heute schon gar nicht mehr erinnern kann.
Industrielles Röntgen
Der einzige, der keine Angst vor unserer Röntgenröhre hatte war der Fabrikleiter. Er war klein und dick – besser gesagt: sehr klein und sehr dick. Wenn er hinter mir stand konnte er mir gerade eben über die Kimme schauen, mehr nicht. Wir nannten ihn „Albert the Dwarf“. Vielleicht dachte er, daß sich alle Gefahren sowieso und immer im Luftraum hoch über seinem Kopf abspielten, so daß ihm nie etwas passieren könnte, auch nicht durch Strahlung, aber wer weiß?
Jedenfalls, bis auf ihn hatten alle anderen Angst. Sie versuchten ihre Furcht zu überspielen, indem sie wie zwanghaft witzelten. Natürlich nur zotig. Ein großer Lacherfolg war immer die Behauptung, daß wir uns in der Durchstrahlungskabine alle verbrutzelten, und irgendwelche Anspielungen auf ein berühmtes Grillhähnchen, das ich nicht kannte. Dabei waren das alles gestandene Männer mit schmutzigen Blaumännern, Schnauzbärten dick wie Dachrinnen und Händen, mit deren einer man ein 10-Meter-Rohr halten und mit der anderen eine Flex daranpressen konnte, so daß ein Geräusch entstand, wie man es eigentlich sonst nur hören kann, wenn man im dunklen Bad stolpert und mit dem Kopf an den Badewannenrand schlägt.
Ihre Hauptsorge bestand darin, daß ihnen durch eine versehentlich empfangene Strahlendosis am nächsten Tag „die Nudel“ abfallen würde. Diese Vorstellung war allen gemeinsam und dauernd präsent, so als ob sie es abgesprochen hätten. Sie hielten sich fern, wann immer es ging, selbst wenn ich rittlings auf der abgeschalteten Röhre saß und mein Pausenbrot aß. Nur Albert the Dwarf fürchtete nicht um seine „Nudel“, vermutlich, weil die nur knapp über dem Boden hing, und dort herrschen ja bekanntlich keine Gefahren für Leib und Leben. Vielleicht empfand auch nur ich dieses Gewitzel als nervig, denn sogar ein Kollege von mir, der sonst sehr distinguiert und sanftmütig ist, lachte mit und tat so, als ob er sich großartig amüsiere. Er sagte sogar: „mir kann da nix passieren, meine Nudel ist schon vor Jahren abgefallen.“
Einer war besonders schnauzbärtig und laut – offenbar weil er die meiste Angst hatte. Er war den ganzen Vormittag hinter mir herumgestanden und hatte eine Anekdote nach der anderen vom Stapel gelassen, in denen immer ein Roboter eine Vollbremsung machte, worauf hin ein riesiges und tonnenschweres Metallteil durch durch Werkshalle flog und irgendetwas zu Schrott schlug. während er selbst daneben stand und ungerührt zusah. Er ging mir langsam aber sicher gewaltig auf den Keks.
Gegen mittag konnten wir ein bleiernes Röhrengehäuse nicht in einen zu engen Einschub quetschen, aber im industriellen Röntgen ist man ja nicht zimperlich. Ich schnappte mir eine prähistorische Metallsäge und stutze die Röntgenquelle mit brutaler Gewalt auf die gewünschten Maße zurecht. Die Gunst der Stunde nutzend, sagte ich vorher zu dem Rotzbremsen-Mann: „Wir müssen jetzt sehr vorsichtig vorgehen, weil es sonst eine grauenhafte Kettenreaktion gibt.“ Da hatte er plötzlich in einer anderen Halle etwas zu erledigen und war weg.
Salbader Nr. 36, Januar 2006
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