WORTLAUT 29

Wer kennt sie nicht, die seltsamen Erinnerungen aus der fernen Vergangenheit, die einem umso realer vorkommen, desto mehr sich im Laufe der Jahre wahre Ereignisse mit blanker Phantasie vermengt haben? Wenn ich bedenke, dass ich 1975 eingeschult wurde und im Herbst 1979 aufs Gymnasium in Hersbruck „übertrat“, wundert es mich nicht, dass wir noch von astreinen Kriegsteilnehmern und ehemaligen Mitgliedern des NSLB unterrichtet wurden. Stoff für die Einbildungskraft ist also allemal vorhanden!

WAS HAT ES EIGENTLICH MIT DEM GELD AUF SICH?

Jeder kannte jeden in unserer Kleinstadt, da gab es niemanden, der nicht dazugehörte. Und freilich: die meisten waren auch irgendwie miteinander verwandt. Dem Zusammenleben tat das gut, es gab keinen Streit bei uns, keine Feindschaften. Auch Betrügereien, üble Nachrede oder Heimlichtuerei waren unbekannt im Städtchen hinter den drei bärtigen Bergen, an schlimmere Vergehen gar nicht zu denken. Mir ist bewusst, dass man mir vielleicht vorwerfen mag, ich übertriebe, verklärte bloß die Vergangenheit als bekäme ich’s bezahlt. Aber dem ist nicht so. Wahr ist: ich werde nicht bezahlt, und alles war gut und Friede herrschte, da wo ich aufwuchs.

Bis auf eine Ausnahme vielleicht, und die darf ich nicht verschweigen. Es gab einen bösen Menschen, der unter uns lebte, das war der Herr Sauergeist, und alle hatten Angst vor ihm. Wir Kinder fürchteten ihn am meisten, obwohl es uns schwer gefallen wäre, zu erklären warum genau. Seltsame Andeutungen gaben wohl den Ausschlag, solche schnappten wir immer wieder auf, wenn sich die Erwachsenen unterhielten. Nichts konkretes, aber es fiel eben erst recht auf, wenn sie die Stimmen zu einem Wispern senkten und die Köpfe zusammensteckten, damit wir nicht hören sollten, was sie sprachen. Wen wundert es da, dass wir umso neugieriger wurden und unsere jungen, glassplitterscharfen Öhrchen empor reckten? So gelang es manchmal, etwas zu verstehen, aber nur einzelne, aus dem Zusammenhang gerissene Wörter und Begriffe. »Judengold«, »Arbeitslager«, »Leiche im Keller« – Das klang unheimlich und rätselhaft. Nichts wäre geeigneter gewesen, unsere Fantasie zu Höchstleistungen anzuspornen.

Vom dritten Reich hatte man uns mit aller gebotenen Behutsamkeit erzählt, aber Herr Sauergeist schien nicht das richtige Alter zu haben. Es war vielmehr unmöglich, überhaupt zu sagen, wie alt und ob er noch Anfang zwanzig oder schon Ende Fünfzig oder schon Achtzig war – er war nicht greifbar, nicht begreifbar. Zum Teil lag das natürlich auch daran, dass niemand wagte, Herrn Sauergeist ins Gesicht zu sehen. Das galt als gefährlich, sogar Hunde vermieden es, ihm auf dem Bürgersteig zu begegnen, und wechselten lieber schon hundert Hundeschritte vorher hastig die Straßenseite, die Gefahr, dabei überfahren zu werden, völlig verachtend.

Wenn der böse Mann auftauchte, waren alle viel zu beschäftigt, sich in Sicherheit zu bringen, als dass Zeit und Muße für eine eingehende Betrachtung geblieben wäre. Kreischend kletterten wir Kinder aus dem Wasser, wenn er am Eingang des Freibades auftauchte, und rannten ein jedes zu seinem Platz auf der Liegewiese, um das kostbare Badehandtuch, meist das einzige der ganzen Familie, in Sicherheit zu bringen. Denn das war es, wovor sich alle fürchteten: es hieß, dass Sauergeist anderen Menschen Dinge einfach wegnahm und für sich selbst behielt. Niemand schien ihn daran hindern zu können oder zu wollen, obwohl er angeblich stets die besten und teuersten Sachen, die sich in einem Haushalt befanden, einsteckte und davon trug.

Als ich in die dritte Klasse der Volksschule ging, war ein Junge in der Parallelklasse mitten während des Schuljahrs spurlos verschwunden. Er war eines Morgens einfach nicht mehr zum Unterricht erschienen, und schnell machte unter uns das Gerücht die Runde, er sei vom Sauergeist geschnappt worden, der nach Einbruch der Dunkelheit durch die menschenleeren Straßen streifte und kleine Jungs, die sich verbotener Weise draußen herumtrieben, einsammelte. Wir stellten uns vor, wie Fabian, so lautete sein Name, nun eingeklemmt zwischen all den Gegenständen, die Herr Sauergeist übers Jahr hinweg an sich genommen hatte, im engen Fach eines Wohnzimmerbuffets hockte, neben Pokalen und Puppen, Badehandtüchern und Bierkrügen, Fernsehapparaten und Fahrrädern, Münzsammlungen und Markenklamotten, Zinnkrügen und Zahnkronen. Natürlich behaupteten die Erwachsenen, Fabian sei mit seinen Eltern nach München gezogen, aber konnte man sich da sicher sein? München kannten wir nur vom Hörensagen, am Ende gab’s das gar nicht – der Sauergeist hingegen war real, ohne Zweifel.

Angeblich hatte er früher auch eine Frau gehabt. Von der hieß es, sie sei in den Fluss gestiegen, um am Grund nach wertvollen Dingen zu suchen. Das erkannten auch wir, dass das Unsinn war. So dumm konnte niemand sein, den Schrott, der zwischen Algen und Moos am Grunde des Flusses friedlich rostend lag, nachdem wir ihn hinein geschmissen hatten, zu bergen. Nein, wenn es diese Frau Sauergeist je gegeben hatte, musste sie aus anderen Gründen verschwunden sein. Und es gab Hinweise, was wirklich geschehen war. Denn auf der Treppe vor dem Rathaus saß an schönen Tagen ein alter Mann und drohte den Kindern, die vorüber kamen, Schläge an. Aus Spaß nur natürlich. Wenn wir auftauchten, fuchtelte er mit seinem Gehstock in der Luft herum und rief uns wüste Beschimpfungen hinterher. Am Ende lachte er laut wie ein Fasan und sagte, dass wir aufpassen sollten, dass uns der Sauergeist nicht holte, der hätte sogar seine eigene Frau an den Zirkus verkauft. Ich bin überzeugt, dass der alte Mann der Bürgermeister war, denn woher hätte er sonst ein solch geheimes Wissen erlangen sollen? Es war letzten Endes wohl die Wahrheit, die als Kern in dieser Geschichte steckte: Herr Sauergeist war süchtig nach Geld. So süchtig, dass es die Hunde wittern konnten und dass er echte Menschen auf dem Jahrmarkt verkaufte wie andere Kartoffeln, Haarbürsten oder Fallhandschuhe.

Dass Geld wichtig war, lernten wir, indem wir unsere Eltern beobachteten. Der Tankwart füllte Benzin ins Auto, der Vater drückte ihm dafür einen Schein in die ölverschmierte Hand. Der Bäcker bekam Münzen dafür, dass er uns Brot und Semmeln in den Korb packte. Die Mutter bezahlte im Tante-Emma-Laden ihren Einkauf, dessen Preis der Händler – der seltsamer Weise gar nicht Emma hieß und weder Nichte noch Neffe besaß – zuvor mit dem Ungetüm von klappernder und klingelnder Registrierkasse zusammen gestochert hatte. Im Frühling tauchte zu Hause alle Jahre wieder der Mann von den Stromwerken auf, der uns den elektrischen Strom verkaufte. Er trug immer eine groß und schwer aussehende schwarze Ledertasche und verschwand mit meinem Vater im Keller. Wenn die beiden nach einer Viertelstunde wieder auftauchten, drückte meine Mutter dem Stromlieferanten einen grünen 5-Mark-Schein in die Hand. Wenn wir uns darüber verwundert zeigten, antwortete mein Vater, dass in der schwarzen Tasche der Strom für ein ganzes Jahr gewesen sei. Dieser sei nun im Stromkasten sicher verstaut, der fest verschlossen und verplompt war, und meine Mutter hätte dafür bezahlt. Der Stromhändler hatte vermutlich auch eine Frau, aber die tauchte nie bei uns auf. Vielleicht war sie aber für eine andere Straße zuständig.

Jedenfalls stand das Eine fest: Für alles musste man bezahlen und dafür brauchte man Geld. Das bekamen meine Eltern einmal im Monat bei der Geldausgabe. Meine vier Brüder und ich begleiteten jedes Mal Vater und Mutter dorthin, denn die Familie musste vollzählig antreten, damit der Geldausgeber ausrechnen konnte, wie viel wir benötigten. Wir saßen also jeden ersten Montag zu siebt mit dem Leiterwagen im Wartezimmer der Geldausgabestelle und hofften, dass wir genug bekommen würden. Es gab nicht den geringsten Grund, sich Sorgen zu machen, aber mein Vater machte manchmal, ganz in Gedanken verloren, rätselhafte Bemerkungen, dass Geld gar nicht existiere oder dass der Lohn nur dazu diente, damit reiche Leute nicht arbeiten mussten. Vater und Mutter gingen jeden Tag zur Arbeit, sie bauten zusammen mit zwei Freunden Fernsehtürme, die sie kunstvoll gestalteten, mit Reliefs und Karyatiden schmückten, und am Ende an Radiosender verkauften. Das Geld dafür bekamen sie vom Geldausgeber ausgehändigt, und wir zahlten davon wiederum für die Dinge, die wir zum Leben brauchten.

Herr Sauergeist hatte aber weder eine Frau noch etwas, was man als Arbeit bezeichnen konnte, und musste sich das Geld irgendwie anders beschaffen. Nur flüsternd erzählte man sich, dass er zu jeder Tages- und Nachtzeit plötzlich bei einem zu Hause mitten im Wohnzimmer stehen konnte und sich die schönsten Gegenstände aussuchte. Er dürfe ins Haus kommen, wann immer er wolle, dürfe sich nehmen, was immer ihm gefiele, dürfe die kalte Kanne Kaffee austrinken und den letzten Zipfel Wurst aufessen – niemand könne ihn daran hindern, das sei verboten.

Alles, was Herr Sauergeist bei seinen Besuchen hinterließ, war ein Aufkleber, auf dem ein seltsamer Vogel abgebildet war. Der Vogel hatte einen eckigen Schnabel und von seinen ausgebreiteten Flügeln hingen ein paar schlaffe schwarze Federn. Ein Kuckuck sei das, erklärte meine Mutter. Über diesen Vogel hatten wir in der Schule einiges gelernt: er legte seine Eier in fremde Nester und ließ die anderen Vögel seinen Nachwuchs ausbrüten. Ich fand es damals einigermaßen irritierend, dass man Lieder singt über ein kriminelles Tier und im Vergleich dazu so wenig über die anständigen Piepmatze lernte, über die fleißigen Störche, Stare, Stelzen und all die anderen. Niemand lobte deren Ehrlichkeit und Anstand, ständig wurde nur des Kuckucks betrügerisches Tun mit Lob und Ruhm vergolten. Bedachten die Erwachsenen dabei nicht, wie sich dies auf unsere formbaren Kindercharaktere auswirkte?

Meine Mutter warnte uns allerdings immer, dass Vögel, die nicht aufpassten und sich von einem Kuckuck foppen ließen, wohl ein wenig selbst schuld seien. Hätten sie besser aufgepasst, dann wäre ihnen das nicht passiert, daher sollten sie aufhören zu jammern. Und ein einziges Mal fügte sie noch hinzu: Die Leute, die der Sauergeist heimsucht, sollten sich selber fragen, ob es ihnen nicht auch ein kleines bisschen recht geschehe.

Den Fabian habe ich übrigens viele Jahre später zufällig wiedergesehen, im Zug nach München. Nachdem er zwei Wochen beim Sauergeist im Regal gesessen hatte, waren seine Eltern erschienen, um ihn auszulösen. Dann waren sie fort gezogen. Fabian arbeitet heute bei der Schuldnerberatung in Bielefeld.

WORTLAUT Ausgabe 29 im Sommer 2023, Cover (c) Benjamin Moravec.


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