WORTLAUT 28

Es gibt in unserer Familie einen unversiegbaren Vorrat an interessanten Begebenheiten. Die Geschehnisse, über die ich 2022 in der WORTLAUT-Anthologie Nr. 28 berichte, könnten nicht authentischer geschildert werden, als ich es tue. Das Haus in der Welserstraße, in dem ein Teil der Vorfahren lebte, steht heute noch. Um welchen Friseurladen es sich handelte, ist jedoch leider nicht überliefert. Besser gesagt: zum Glück!

WAS KOSTET EINE HALBE RASUR?

Als im Jahr 1958 mein Urgroßvater beim Friseur auf dem Behandlungsstuhl sitzend starb, ahnte niemand, dass in diesem Moment Rechtsgeschichte geschrieben wurde. Der Prozess um das Entgelt für die Rasur des alten Mannes wurde zum Familienerbstück, das sorgsam von Generation zu Generation weitergereicht wurde.

Es war nicht das erste Mal, dass der Vorfahr sich bei jenem Haarkünstler hatte rasieren lassen. Zwei, drei Mal die Woche war er dort Kunde, insbesondere wenn die hohen Feiertage anstanden. Stets bezahlte er nach Abschluss der Rasur, nie hatte der Barbier einen Vorschuss verlangt, kein einziges Mal war er auf seinen Kosten sitzengeblieben. So schlossen er und mein Urgroßvater wie gewohnt den Vertrag. Weder schriftlich noch mündlich, sondern schweigend.

Es gibt eine Zeugin, die diesem Vorgang am fraglichen Tag beiwohnte: Meine damals neunzehnjährige Tante hatte ihren Großvater zum Friseur begleitet und von ihm zur Verabschiedung zwanzig D-Mark mit dem Auftrag in die Hand gedrückt bekommen, beim Metzger zwei Kalbsschnitzel für mittags zu kaufen. Mein Urgroßvater hatte einen empfindlichen Magen und aß häufig Kalbsschnitzel. Praktisch andauernd. Frühstück, Mittagessen, Abendessen. Sein Körper bestand im Wesentlichen aus Kalbsschnitzel.

Als meine Tante nach nur wenigen Minuten zurückkehrte, standen bereits Schaulustige auf dem Bürgersteig vor dem Laden. Drinnen saß der Urgroßvater zwar immer noch im Stuhl, allerdings hatte ihm der Friseur die Augen zugedrückt und ein weißes Handtuch um den Kopf geknotet. Ein Profi, der wusste, wie man mit Leuten umging, die mitten unter einer Kinnhaarentfernung verstarben. Die Situation war offenkundig alles andere als ungewohnt für ihn! Der erste Hinweis darauf, wie das Verhalten des Frisurpfuschers in der späteren gerichtlichen Auseinandersetzung einzuschätzen sein würde.

Meine Tante erzählte noch im hohen Alter, dass der Urgroßvater wie ein Hase ausgesehen habe, wegen der beiden Tuchzipfel, die links und rechts vom Kopf in die Höhe ragten. Sie habe zunächst gedacht, er wolle einen bizarren Scherz mit ihr treiben. Daher sei sie auf die unverschämten Forderungen des Friseurs überhaupt nicht vorbereitet gewesen. Dieser beklagte nämlich ohne Umschweife, dass der Tote sein Geschäft schädige, da er den Stuhl länger als nötig besetze und so verhindere, dass weitere Kunden bedient würden.

Zwar hatte schon irgendjemand nach einem Auto telefoniert, doch waren Fahrzeuge damals rar bzw. so stark vom noch nicht lange zurück liegenden Krieg geschwächt, dass sie selbst, wenn sie es darauf angelegt hätten, in der 30er-Zone nicht geblitzt worden wären. Nach einer geschlagenen Stunde war es endlich so weit. Der Großvater wurde in das Auto des städtischen Friedhofsamtes verladen, aber der Friseur ließ sich davon nicht besänftigen. Er verlangte immer höhere Summen als Verdienstausgleich und unterstellte schon hier, gleich am Anfang bösen Willen, als ob unsere Familie den Urgroßvater mit voller Absicht zum Sterben in jenes schmutzige und abgewetzte Trümmerteil von Sessel entsandt hätte.

Das ging meiner Tante, die sich dringlichst mit der anstehenden Testamentseröffnung beschäftigen wollte, zu weit. Wie unzweideutig aus den Akten, die seitdem alle paar Jahre bei einem der Revisionsprozesse verlesen wurden, hervorgeht, bot sie dem Friseur die Kalbsschnitzel im Wert von sage und schreibe zwölf Mark an!

Zum Vergleich: eine vollständig durchgeführte Rasur wäre auf lediglich 60 Pfennig gekommen. Die Anwälte unserer Familie betonen bis heute, dass dies keinem Schuldeingeständnis gleichgekommen sei, wohl aber den guten Willen der Hinterbliebenen bewiesen hätte, die Streitigkeit gütlich zu regeln. Rasch und pragmatisch, wie wir eben sind. Woran aber der Friseur offenbar ebenso wenig interessiert war, wie seine verhärmten, gierigen und sturköpfigen Anverwandten, die über sechzig Jahre lang auf ihren Forderungen bestanden.

Dass die Tante, sicherlich verwirrt, verunsichert ob der tragischen Situation und verständlicher Weise auch gekränkt durch die brüske Ablehnung der qualitativ hochwertigen Kalbsschnitzel seitens des Friseurs, nun die Nerven verloren und dem Barbier die Fleischlappen mehrfach ins Gesicht geklatscht habe, kann kein Mensch bezeugen. Jedenfalls kein lebender. Die Aktenlage ist auch hier eindeutig: der Friseur konnte schon beim ersten Gerichtstermin keinerlei ärztliche Atteste oder Nachweise vorlegen, denen gemäß er von den Schnitzeln im Gesicht verletzt worden wäre.

Dreister Weise behauptete er zudem steif und fest, die Rasur des Urgroßvaters bereits vollendet gehabt zu haben, als dieser plötzlich die Augen nach oben verdrehte, ein röchelndes Geräusch von sich gab und schließlich den Kopf kraftlos auf die für immer still gewordene Brust sinken ließ. Meine Tante hatte jedoch genau hingesehen, als sie in den Laden getreten war, und zuverlässig bemerkt, dass die eine Wange noch voller Bartstoppeln gewesen war. Der Friseur besaß die Unverschämtheit zu behaupten, meine Tante habe nun gar nicht sehen können, ob der Großvater schon im ganzen Gesicht rasiert gewesen sei, da er, der Friseur, geistesgegenwärtig das Tuch um den Kopf gebunden hatte, damit dem Alten nicht der herab geklappte Kiefer erstarrte. Wofür er, so der Gipfel seiner Unverschämtheit, auch ein zusätzliches Entgelt berechnen könne, wenn es ihm nur gelingen würde, seine – nur von ihm selbst attestierte – Bescheidenheit zu überwinden.

Doch meine Tante hatte natürlich Recht, denn sie hatte geistesgegenwärtig auf die Oberlippe des Großvaters geschaut, und da stand nur noch ein halbes Hitlerbärtchen, die andere Hälfte war abrasiert. Wiewohl es an dieser Stelle schon früh die Möglichkeit zu einer Einigung, im Sinne der Erstattung von fünfzig Prozent der Kosten einer vollständigen Rasur, gegeben hatte – allein der überhebliche Haarkünstler konnte seine Gier nicht besänftigen und blieb auf der Maximalforderung bestehen.

Die Tatsache, dass der Barbier meine Tante nicht nach Hause gehen lassen wollte, ehe sie den angeblichen Verdienstausfall bezahlt hätte, wird von den Anwälten unserer Familie bis heute als versuchte Freiheitsberaubung gewertet. Daran ändert auch nichts, dass die herumlungernden Gaffer den Friseur in Schach hielten, um meiner Tante den Weg frei zu machen.

Dass einer dieser Gaffer von meiner Tante mit gewissen Zärtlichkeiten belohnt worden sei, hätte, selbst wenn es der Wahrheit entspräche, mit der Sache nichts zu tun. In den 1950er Jahren war es keineswegs verboten, dass Mann und Frau auf offener Straße einen Kuss austauschten. Insbesondere als es sich um den rein zufällig erschienen Verlobten der Tante handelte, der dem ehrenwerten Gewerbe der Parkplatzvermietung nachging, womit er, in der sich seinerzeit stürmisch entwickelnden Epoche der individuellen Automobilisierung, ein respektables Einkommen erwirtschaftete.

Dass er den Friseur mit einer rostigen Brechstange bedroht habe sowie einen Ersatz für die verdorbenen Kalbsschnitzel verlangt hätte, die nun, verklebt mit dem Teil der Barthaare des Großvaters, die bereits abgeschnitten waren, auf dem schon zuvor alles andere als appetitlichen Boden des Friseursalons lagen, gehört ins Reich der Legenden. Aus welchem sich leider Gottes die Rechtsverdreher, die den Lügen des Friseurs wie auch dessen Nachkommen bis heute auf den Leim gingen, mit größter Unverfrorenheit bedienten.

Die Haltlosigkeit der gegnerischen Unterstellung lässt sich mühelos daran erkennen, dass der Knilch von Barbier erst drei Jahre nach dem Vorfall Anzeige gegen den zu diesem Zeitpunkt bereits Ex-Mann meiner Tante erstattete. Und zwar wegen Körperverletzung, Geschäftsschädigung und Leistungserschleichs.

Die Gegenpartei bemühte sich darüber hinaus, dem Ex-Mann die Schuld an einem verheerenden Brand in dem Friseursalon in die Schuhe zu schieben. Obwohl vom Geschädigten lauthals vermutet, war dies vollkommen unmöglich, denn während des fraglichen Zeitraums war der Ex-Mann gezwungen, eine mehrmonatige Haftstrafe abzusitzen, aus Gründen, die in einer ganz anderen Geschichte zu behandeln wären.

Viel wahrscheinlicher ist, dass das Früchtchen einen der damals neu in Mode gekommenen elektrischen Rasierapparate falsch handhabte, weil er mit Gewissheit von der Bedienungsanleitung intellektuell hoffnungslos überfordert war. Dass ein elektrischer Kurzschluss die wahrscheinlichste Ursache gewesen sei, stand auch im Gutachten des staatlichen Brandinspektors, der auch auf die zersplitterte Schaufensterscheibe und Reste einer brennbaren Flüssigkeit einging, die der verleumderische Barbier – bar jeglicher Sachkunde – als Indiz für einen Anschlag wertete. Es versteht sich von selbst, dass unsere Familie im Gegenzug Anzeige wegen Verleumdung und übelster Nachrede stellte. Die am Ende nur deswegen nicht mehr weiter verfolgt wurde, weil der Ex-Mann meiner Tante in Folge einer Kette bedauernswerter Ereignisse für einige Jahre das Land verlassen musste.

Die Auseinandersetzung vor Gericht ging nun kürzlich in eine nächste, ja in die letzte Runde. Auf Seiten des Friseurs – der irgendwann in den 1980ern kinderlos verstarb – wurde der Prozess wieder angefeuert und weiter vorangetrieben durch einen Großneffen, einen eitlen Nichtstuer und Großsprecher, der wohl auf einen schönen Batzen Geld hoffte, ohne sich dafür anstrengen zu müssen.

Nur war dieser Prozesshansel weniger vom Pech verfolgt als vielmehr Opfer seines eigenen Unvermögens, das ihn dazu trieb, der vorsitzenden Richterin einen Vortrag über die Notwendigkeit einer veganen Ernährung zu halten und seine Verachtung für Leute, die Kalbsschnitzel essen, zum Ausdruck zu bringen. Da hätte er sich besser mittels seines rübendummen Handtelefons, aus dem er permanent irgendwelche Paragrafen und Vergleichsfälle zitierte, zuvor ordentlich informiert. Konnte doch wirklich jeder Hirnheiner mit Leichtigkeit feststellen, dass die Richterin nicht nur Vorsitzende der regionalen Jägervereinigung, sondern auch öffentlichkeitswirksam aktiv in einem Verein der Freunde des fränkischen Schäuferle war.

Nach der endgültigen Einstellung des Verfahrens in vierter Generation ist nun unsere Familie von allen falschen Anschuldigungen reingewaschen, das Ansehen und die Ehre des Urgroßvaters, der Tante, ja sogar ihres Ex-Mannes – jedenfalls in dieser Angelegenheit – wieder vollständig hergestellt.

Einziger Wermutstropfen: die Anmeldung zur Aufnahme des Zivilprozesses in die Liste des immateriellen Kulturerbes werden wir wohl oder übel zurückziehen müssen…

WORTLAUT Ausgabe 28 im August 2022, Cover (c) Anton Hantschel.


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