Eine weitere (nahezu) wahre Familiengeschichte, die 2021 in der WORTLAUT-Anthologie Nr. 27 erschien. Dass der Tätowierer in der Fürther Südstadt Anfang der 1990er der einzige seiner Art weit und breit war, ist Tatsache. Ich war selbst dort in Behandlung und kann seine Existenz bezeugen.
DIE TÄTOWIERTEN TANTEN
Meine Mutter hat drei Schwestern und einen kleinen Bruder obendrein. Die alle fünf, nur um grob die Altersklasse einzuordnen, im Wochenbett ein Impfbuch in ihren winzigen Händen hielten, dessen Umschlag ein Adler mit dem Hakenkreuz zierte.
Natürlich war die größte Schwester, Tante Ulli die erste. Sie war immer die erste. Die erste, die radfahren konnte, die erste, die rauchte, die als erste ein Kind, die erste Scheidung. Und die erste Tätowierung. Da war sie zwar schon Mitte Vierzig, aber wie sie zu sagen pflegte: »wenn ich einmal unter der Erde bin, ist eh alles egal.«
Ullis Sohn, Dirk-Albert, studierte in einer fernen Stadt. Als der Bub alt genug gewesen war, um einen Lebensstil zu wählen, hatte er sich Punker ausgesucht. Die Beschaffung der erforderlichen Ausrüstung gestaltete sich reibungslos: Die Haare wurden mit Coca-Cola, das damals noch echten Zucker enthielt, zum Irokesen aufgesteilt. Eine Kette, die sich mühelos im Werkzeugschuppen fand, samt Vorhängeschloss um den Hals gehängt, die kaputte Jeans mit Altöl geschwärzt, Opas Lederjacke – fertig. Dafür gab es schon ein fettes Hausverbot in der Billardstube des Sportvereins gegenüber der Dorfwirtschaft, eine wichtige Auszeichnung in der Karriere eines aufsteigenden Sterns am Dorfpunk-Himmel.
»Todschick!« lobte Ulli Dirk-Alberts Frisur, der sich den Gepflogenheiten seiner neuen Lebensform gemäß den Kampfnamen »Bubbel« zugelegt hatte.
»Wenn du rostige Rasierklingen brauchst, sag bitte Bescheid«, bot ihm Tante Carola an.
»Eine abgebrochene Sicherheitsnadel hätte ich da auch noch für dich«, fügte Tante Inge hinzu.
Tante Carola, Ulli, Inge und meine Mutter trafen sich jeden Sonntag zum Kaffeekränzchen. Ohne Kirche vorher, um die machte der ganze Clan einen großen Bogen. Lange schon vor Dirk-Alberts Punkwerdung und aus der tief verwurzelten Weigerung heraus, sich von niemandem, aber auch wirklich niemandem etwas sagen zu lassen.
Eines Tages, im dritten oder vierten Semester, ging die Tür auf und Bubbel stand mit einem Sack schmutziger Wäsche im Saal. Große Freude bei der Mutter und den Tanten! Nötigung des Jungen, sich aufs Sofa zu setzen und Kuchen zu essen. Ein Stück von jedem der vier Kuchen, die allsonntäglich gebacken wurden. Jedes Stück unter einem Berg Sahne begraben.
Was er erlebt habe, da draußen in der Welt, wie es um sein Studium stünde, ob er eine Freundin habe oder gar mehrere – was nicht wundern würde, bei einem so hübschen Burschen wie ihm –, und wie oft am Tag er das Cola in der Frisur nachgießen müsse. Ob er vielleicht etwas extra Geld bräuchte, da der hohe Verbrauch amerikanischen Zuckerwassers doch auf die Dauer teuer sei.
Bubbel fühlte sich pudelwohl. Wohl und geschmeichelt, so dass er der versammelten Familie seine neueste Errungenschaft präsentierte: ein auf den linken Oberarm tätowierter Anker. Er war für ein paar Tage mit anderen Studierenden der Anarchie in Hamburg gewesen und hatte sich auf der Reeperbahn spontan entschieden.
Die Runde war hellauf begeistert. Es dauerte keine fünf Minuten, dann war man sich einig: Alle Schwestern wollten jede auch ein Tattoo. Doch es gab ein Problem: Wo zum Teufel hatte es einen Tätowierer – hier in Franken, mitten im verhexten Hinterwald, im dritten Tal nach der alten Eiche links, einen Tagesritt vom nächsten eingestürzten Burgstall entfernt, tausend Kilometer vom nächsten Hafen?
Doch Bubbel hatte einen guten Tipp: da, wo es Soldaten gab.
Ulli gab dem verwitweten Bauern Müller vom Hof gegenüber ein diskretes Zeichen, dass, ganz im Sinne ihres gutnachbarschaftlichen Verhältnisses, es eine sehr gute Idee wäre, sie in die nächstgelegene Garnisonsstadt zu kutschieren. Genauer gesagt: nach Fürth. Das dem Hörensagen nach zu einem Gutteil von amerikanischen G.I.s bewohnt war, was zur Folge hatte, dass dort der einzige amtliche Tätowierer zwischen Pegnitzquelle und Rednitzgrund seine Dienste feilbot. Wohl gab es Hinweise, dass man sich auch in Nürnberg ein Gemälde in die Haut nadeln lassen könne, ohne hierzu gleich einen Aufenthalt im Gefängnis antreten zu müssen, wo dies mit Reißnägeln und verbrannten Radiergummis erledigt werde. Doch – so die einhellige Meinung aller lokalen Experten – die Reise an sich wäre nicht zu überleben. In Nürnberg hätte man nur die Wahl, von der Hand eines (sicherlich tätowierten) Kriminellen gemeuchelt oder im wahnsinnigen Autoverkehr zerrieben zu werden. Fürth versprach immerhin eine kleine Chance, heil wieder herauszukommen.
Müller besaß eine schnelle Auffassungsgabe und sattelte gleich am anderen Morgen das Motorrad mit Beiwagen. Die Öffnungszeiten des Tätowierers waren unbekannt, doch nahm man an bei Tageslicht, so wie alle Handwerker im Dorf. Die Blaskapelle der Feuerwehr spielte das Lied der Franken, als Tante Ulli und Witwer Müller am Ortsschild vorbei nach Südwesten knatterten.
Kaum jemand hatte mit ihrer Rückkehr gerechnet. Jedenfalls noch am selben Tag. Doch dann lief kurz vor Mitternacht das Gespann vor dem Dorfkrug ein. Der Wirt erklärte die letzte Runde vor einer Viertelstunde für irrtümlich ausgerufen und schleppte volle Krüge herbei.
Über dem großen Hallo, das die unbeschadete Rückkehr auslöste, wäre beinahe der Anlass der Expedition vergessen worden. Doch Tante Ulli ließ die Gelegenheit nicht ungenutzt und nach dem vierten Schnaps die Hosen runter. Die Begeisterung als hellauf zu bezeichnen würde eine verantwortungslose Verharmlosung des Spektakels bedeuten, das nun ausbrach. Angesichts eines eins-a gelungenen Totenkopfes, welcher auf der großzügig ausgebildeten Hinterbacke meiner Tante zum Vorschein kam. Mit größter Aufmerksamkeit wurde die Ausführung sämtlicher Details begutachtet wie auch mit großer Wertschätzung das Spruchbanner, das sich um den knöchernen Schädel wickelte: »Kill ‚em all, let’s God sort them out«. Da niemand der Anwesenden, zumal im fortgeschrittenen Zustand der Trunkenheit des Englischen ausreichend mächtig war, einigte man sich darauf, dass es wohl eine biblische Botschaft sei, die auf Gottes unerschöpfliche Güte wie auch Strenge hinweisen sollte. Dies war exaltiert genug, um Tante Ulli das einhellige Lob der Gemeinschaft zu sichern.
Die erste Tätowierung war im Dorf eingetroffen, und man sah, dass sie gut war. Um so mehr wollten sie nun alle und sofort. Beim Kaffeekränzchen wurden pausenlos Oberarme, Schenkel, Bäuche sowie – ja – auch Hinterteile entblößt und in der Runde gezeigt. Und unzählige Bildmotive vorschlagen, debattiert, verfeinert und verworfen.
Karl, der Mann von Inge, der in der Familie, aus Gründen, über die ich nicht in der Öffentlichkeit sprechen darf, »der Nackige« genannt wurde, um ihn von »Karl, dem Parfümierten« zu unterscheiden, welcher der Mann von Tante Carola war – jedenfalls Karl, der Nackige erhielt schon am übernächsten Tag die Aufgabe, Tante Inge in die Stadt zu chauffieren. Für ein Landei wie ihn ein abenteuerliches Unterfangen.
Als er von Osten kommend den Nürnberger Rathenauplatz erreichte, war sein Hemd komplett durchgeschwitzt. Dass er das vierspurige Abbiegen am Plärrer überlebte, betrachtet er heute noch als Wunder, und wie es ihm dann in Fürth gelungen war, am Sparkassenhochhaus und der Komödie vorbei irgendwie bis zum Südausgang des Bahnhofs zu finden, konnte er im Nachhinein beim besten Willen nicht mehr sagen. Doch irgendwie musste er es geschafft haben, denn am Ende parkte der dunkelgrüne Bauern-Benz glücklich vor »Eddie’s Tattoo Shop«.
Vor dem kleinen Ladengeschäft, das an eine merkwürdig schmale und auch unpraktisch dunkle Friseurstube gemahnte, stand tagein, tagaus – dem damaligen Standard entsprechend – das Rudel der zum Geschäft gehörenden Rocker herum. Breitschultrige Typen mit Oberarmen dick wie Fernwärmeleitungen, mit U.S.-amerikanischen Streifen und Sternchen geschmückte Kopftücher, verspiegelte Sonnenbrillen, Cowboy-Stiefel und ein Body Mass Index, der die Nutzung der meisten Personenaufzüge in ganz Nordbayern ausschloss.
Tante Inge spazierte ins Tattoo-Studio hinein, ohne der übergewichtigen Palastwache auch nur einen Blick zu gönnen. Sie war hier, um sich tätowieren zu lassen, und nicht, um einer für sie sinnfreien Fürther Folklore ihre Reverenz zu erweisen.
Karl, der Nackige blieb hinterm Steuer sitzen. Kurz erwog er, den Motor laufen zu lassen, als wäre seine Frau eine Bankräuberin und er der Fluchtwagenchauffeur. Doch dann siegte der bäuerliche Spargeist in ihm und er beendete die tuckernde Verfeuerung des guten steuerbefreiten Landmaschinendiesels.
Es dauerte wohl zehn Minuten, bis sich einer der illustren Gestalten aus der Imponierstarre löste, breitbeinig zur Fahrertür schritt und ans Fenster klopfte. Karl kurbelte einen schmalen Spalt weit herunter.
»Hei Masdder. Is des dei Alde, die wou douda grad nei is?«
Karl, der Nackige bejahte hastig, da er grundsätzlich an die Ungeduld als die am weitesten verbreitete Ursache für Verbrechen gegen Leib und Leben glaubte. Kriminalität war ausnahmslos in Eile – davon war er überzeugt.
»Passd scho. Mach da kanne Sorgn, die kummd eher widda als wei da lieb is. Soll i dir mal mein Rüggn zeing? Hopp etzd, steich aus!«
Später würde Karl immer wieder betonen, wie schnell danach alles gegangen sei. Dass er überhaupt nicht gewusst habe, was mit ihm geschehe beziehungsweise er bis heute nicht verstände, wie es dazu hatte kommen können, dass plötzlich ein halb entkleideter, dicker und bekopftuchter Mann vor ihm stand und ihm ein zirka zwei bis fünf Quadratmeter bedeckendes, in die Haut seines breiten Rückens eingeritztes Monumentalgemälde zur Betrachtung feilbot.
»I hab blous no griena, Schmerzen warn des wie bei aner Geburt, zwa Stund gschrien hob i«, sagte der Rocker und Karl, der Nackige empfand tiefstes Mitgefühl.
Als Inge eine Stunde später mit einem von Kolibris umschwirrten bunten Kranz von Tulpen um den Hals den Laden verließ, hatte Karl schon zwei Bier intus und war der Fähigkeit verlustig gegangen, sich über Körperschmuck welcher Art auch immer nur im geringsten verwundert zu zeigen. Natürlich lobte er Inges Tropen-Tattoo über die Maßen. Dass diese Zierde jedoch niemals an den in Lebensgröße abgebildeten, eine Sense schwingenden Knochenmann heranreichen konnte, der ein auf Sägeblättern rollendes Motorrad durch eine klaffende Fleischwunde auf dem Rücken seines neu gewonnenen Freundes steuerte, behielt er wohlweislich für sich.
Es dauerte nicht lange, bis das nächste Dutzend Frauen aus dem Dorf sich ebenfalls zur »Behandlung nach Fürth« aufmachte, und als sie am Ende alle stolz ihre ersten, zweiten und zum Teil schon dritten Tattoos trugen, als schließlich die halbe Tierwelt Afrikas und Asiens auf den großen weißen Hintern, Rücken und Schultern insbesondere der Schwestern siedelte, war klar: Jetzt musste auch der Onkel ran.
Der war im Grundsatz ein zurückhaltender und schweigsamer Mann, doch der Hang zur Exzentrik war auch seinen Chromosomen eingeschrieben. Anders gesagt: Ein Anker auf der Schulter hätte es aus der Sicht vieler Außenstehender zwar auch getan, aber der kunstsinnige Onkel entschied sich ohne groß zu zögern für das Gemälde »Der Schrei«. Auf dem Bauch.
Karl, der Nackige platzte dann natürlich, kaum dass die Vorführung des wahrhaft kunstvollen Körperschmucks im Dorfkrug unter großem Applaus geendet hatte, mit der Frage heraus, ob die Prozedur nicht höllisch weggetan habe?
Ja, das schon, gab mein Onkel freimütig zu. Jedoch Dirk-Albert, der ihn zum Tattoo-Shop am Südausgang des Fürther Bahnhofs begleitet hatte, habe ihn mit eiskalten Getränken versorgt, diese hätten ihm die notwendige Kraft zum Durchhalten verliehen. Erstaunlich sei es, wofür dieses Coca-Cola doch alles nützlich sei, von dem Bubbel stets einen großzügigen Vorrat mit sich führe.
Und wenn er, der Onkel, noch ein einziges Haar auf seiner spiegelnd glänzenden Platte besitzen würde, er würde sich wohl auch einen Irokesen stehen lassen, das schwöre er auf den blanken Hintern seiner Frau, den inzwischen das Schloss Neuschwanstein schmücke – im Maßstab eins zu Vierhundert. Er habe das sorgfältig nachgemessen.
WORTLAUT Ausgabe 27 im August 2021, Cover (c) Johannes Felder.
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