Eine Anthologie, jährlich einmal herausgegeben vom sympathischen Team des KUNO (a.k.a. Literaturzentrum Nord) in Nürnberg. Ich trage gerne und gezielt bei, indem ich (beinahe) wahre Familiengeschichten aufschreibe und rechtzeitig vor Redaktionsschluss an die richtige Adresse schicke. Das Verkehrschild, von dem berichtet wird, lässt sich übrigens heute noch bewundern (wenn man weiß, wo es steht).
GROSSMUTTERS RAUMFAHRT
Am Ende zeigte sich, dass der Bürgermeister den Belastungen seines Amtes nicht gewachsen war. Der Bürgermeister des Dorfes, in dem meine Großeltern lebten. Ein winzig kleines Dorf im ostfränkischen Entwicklungsrückstandsgebiet. Wirtshaus, Kirche, eine einklassige Volksschule. Alle Kinder im Alter von sechs bis zwölf Jahren hatten in ein und demselben Raum gesessen und waren von meiner Großmutter unterrichtet worden. Die gesamte erwachsene Bevölkerung des Dorfes hatte bei ihr Lesen und Schreiben gelernt. Auch der Bürgermeister.
Nur der Pfarrer nicht, der kam von außerhalb, und weil er ein Lutherischer war, hatte er eine Ehegattin mitgebracht, die leider danach gierte, das Dorf zu beherrschen. Vielleicht weil sie von ostpreußischem Landadel abstammte oder weil ihr Mann, der Herr Pfarrer, nie die vollständige geistliche Autorität im Ort erringen konnte. Denn sein Nachname lautete »Witzmann«.
Meine Großmutter saß bis ins hohe Alter selbst hinterm Steuer ihres Autos, aber ihre tiefsitzende Abneigung gegenüber dem Bergaufwärtsanfahren konnte sie zeitlebens nie ablegen. Von Natur aus Feind jeglicher überflüssiger Körperbewegungen, hasste sie diesen Vorgang aus ganzem Herzen, da er für ihren Geschmack zu viele koordinierte Griffe und Tritte gleichzeitig verlangte – sachte das Gaspedal drücken, mit links das Lenkrad fest halten, rechts die Handbremse lösen, mit dem anderen Fuß die Kupplung kommen lassen, in den Rückspiegel schauen, hupen, blinken, den Benzinstand kontrollieren: Das war zu viel auf einmal, solcherlei Sklavenarbeit konnte sie mit ihrer Würde nicht vereinbaren.
Dann verkaufte ein Bäuerlein, der von seinen beiden Hühnern nicht mehr leben konnte, ein großes Feld am Hang unterhalb des Waldrandes als Bauland, und plötzlich kamen aus dem Weg, der bergaufwärts gesehen von rechts in die Straße zum Haus meiner Altvorderen mündete, regelmäßig andere Fahrzeuge heraus, die unverschämter Weise Vorfahrt hatten.
Meine Großmutter ließ sich das höchstens drei oder vier mal gefallen und ehe sie auch nur ansatzweise Übung im Bergaufwärtsanfahren bekommen konnte, ging sie zum Haus des Bürgermeisters, klingelte und sagte zu dem guten Mann: »Martin, pass gut auf! Du musst deiner alten Lehrerin ein Vorfahrtsschild aufstellen. Du hast Zeit bis Montag.«
Der Bürgermeister hob nur kurz die Augenbrauen, dann antwortete er so wie er es gewohnt war: »Ja, Frau Fuchs.«
Am Samstag stand das Schild, und die Schaulustigen, die sich darum versammelten, lobten die Ausführung durch den Gemeindearbeiter ebenso wie die Autorität meiner Großmutter und den Gehorsam des Bürgermeisters.
Die einzige Person im Dorf, die sich empörte, war die Pfarrerin. Sie war neidisch – ganz schrecklich neidisch, war doch sie unter den Frauen die erste und wichtigste. Also machte sie sich auf zu besagtem Haus, um ebenfalls zu klingeln. Sie blickte streng in des Bürgermeisters Antlitz und sprach: »Bürgermeister, ich muss ein ernstes Wort mit dir reden!«
»Ja, Frau Pfarrer?«
»Du kennst doch die Biegung des Flusses, nahe des Auwäldchens, gleich da, wo das Pfarrhaus steht und wo eine Person, die hinüber zum anderen Ufer gelangen möchte, etwa zum Gasthof, zum Dorfladen oder zur Biberaufzuchtstation, einen unerträglich weiten Umweg gehen muss, da sich die einzige Brücke in der Mitte des Dorfes befindet?«
»Ja, Frau Pfarrer.«
»Ich denke, es ist höchste Zeit, dass du den Gemeindearbeiter losschickst, auf dass er einen Steg errichte und diesen üblen Zustand aus der Welt schaffe.«
»Ja, Frau Pfarrer«, sagte der Bürgermeister. Er befürchtete, die Pfarrerin möge andernfalls ihrem Mann einen Hinweis geben, dass es an der Zeit sei, den Bierkonsum des Bürgermeisters von der Kanzel herab öffentlich anzuprangern.
Nur zwei Tage, nachdem der Gemeindearbeiter den Steg errichtet hatte und die Pfarrerin nun trockenen Fußes über den Fluss wechseln konnte, wurde wiederum meine Großmutter beim Bürgermeister vorstellig.
»Martin, horch her! Deine alte Lehrerin fürchtet sich nicht vor der Dunkelheit, aber allmählich sieht sie nachts nicht mehr so gut wie am Tage und da irgendjemand auch noch spät abends die leeren Flaschen zum Altglas bringen und nach Farbe sortieren muss, brauche ich am Sammelcontainer eine Straßenlaterne. Kümmerst du dich da bitte darum?«
»Ja, Frau Fuchs!«, sagte der Bürgermeister und wählte die Nummer des Gemeindearbeiters.
Derart ging es immer weiter hin und her, die Forderungen nahmen immer größere Ausmaße an. Der brave Gemeindearbeiter musste nacheinander einen dekorativen Brunnen in der Dorfmitte errichten, eine Umgehungsstraße asphaltieren, ein Klärwerk in die Landschaft setzen, ein Opernhaus hochziehen und einen Berg spalten, der für den Geschmack meiner Großmutter nachmittags eine Viertelstunde zu früh seinen Schatten auf die Terrasse warf.
Als sich die Pfarrerin über das Gleißen des Vollmondes beklagte, der sie des Nachts vom wohlverdienten Schlafe abhielt, ertrug der Bürgermeister das Spiel nicht länger und erhängte sich im Werkzeugschuppen des Bauhofs. Er hinterließ einen Abschiedsbrief, der in krakeliger Kinderschrift um Verzeihung für sein Versagen warb und den meine Großmutter mehrerer Rechtschreibfehler wegen nur mit einer Drei-Plus bewertete.
Der Gemeindearbeiter hingegen erwies sich als robuster und begann aus dem Material der letzten Sperrmüllsammlung eine Rakete zu basteln. Seine ursprüngliche Absicht war, sich das Problem »Mond« zunächst aus der Nähe anzusehen, um in der Folge einen Plan zu dessen Abschaltung zu entwickeln. Doch dann funktionierten seine Feuerrohre so hervorragend, dass er ein hoch dotiertes Angebot aus den U.S.A. erhielt, welches er unmöglich ablehnen konnte. Er stellte zum Abschied eine Flasche Bier auf das Grab des Bürgermeisters und wanderte aus.
Und immer, wenn sich die Erzählung meiner Großmutter, während ich auf ihrem Schoß saß und gespannt lauschte, dem Ende näherte, machte sie eine kurze Pause. Dann raunte sie: »Sein Name aber lautete Wernher von Braun.«
WORTLAUT Ausgabe 26 im August 2020, Cover (c) Sejin Kim.
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